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Gathmann Michaelis und Freunde | Seniorenpolitik

So­li­da­ri­sche Un­ter­stüt­zung in ei­ner ent­so­li­da­ri­sier­ten Ge­sell­schaft

Wie wol­len wir im Al­ter le­ben? Und was müs­sen wir da­für tun?

Das Pro­b­lem: die Zu­kunft der Pf­le­ge in Zah­len

Deutschland wird immer älter. So bekannt diese Entwicklung ist, so wenig scheinen wir uns ihrer Konsequenzen bewusst zu sein. Nehmen wir beispielhaft die Altenpflege heraus, um einige Zahlen zusammenzutragen: 

Um den Status Quo zu halten, wird der Bedarf an Pflegekräften im Jahr 2040 um etwa ein Drittel auf 2,15 Millionen steigen. Dabei sind die Beschäftigten in der Pflege älter als in anderen Branchen: bis 2040 wird fast jede zweite Pflegekraft im Ruhestand sein. Zwar entwickeln sich die Ausbildungszahlen positiv, doch rechnen selbst optimistische Szenarien mit einer Personallücke von rund 600.000 Personen.  

Dem gegenüber stehen wachsende Bedarfe. Aktuell leben in Deutschland ca. 5,5 Mio. pflegebedürftige Menschen. Bis 2040 werden es bis zu 6,8 Mio. sein, bis 2055 werden bis zu 7,8 Mio. erwartet. Zusätzlich ist damit zu rechnen, dass Menschen durch medizinisch-technische Fortschritte länger (stark) pflegebedürftig leben werden. Eine Sache wird dabei oft vergessen: der größte Teil der Pflegebedürftigen wird aktuell zuhause versorgt (89%), die Mehrheit davon wiederrum ausschließlich von Angehörigen (53%). Durch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen (die traditionell den Großteil der Pflegearbeit leisteten), wachsende räumliche Distanzen zwischen Familienmitgliedern und den Anstieg von Einpersonenhaushalten ist davon auszugehen, dass erhebliche Teile informeller Pflege in Zukunft durch professionelle Dienstleister übernommen werden müssen.

Oder kurz gesagt: es wird immer mehr Leute geben, die Hilfe brauchen während gleichzeitig immer weniger Personen zur Verfügung stehen werden, um diese Hilfen (professionell) zu leisten. Wie kann nun angesichts dieser Entwicklung sichergestellt werden, dass Personen im höheren Alter die Unterstützung erhalten, die sie brauchen?

So­li­da­ri­sche Un­ter­stüt­zung im Quar­tier: die Lö­sung?

In Forschung, Politik und Praxis sieht man eine mögliche Lösung in der Aktivierung informeller Unterstützungspotenziale. Wenn professionelle Akteure an die Grenze ihrer Kapazitäten kommen, sollen sich Menschen vor Ort gegenseitig helfen. Profis unterstützen bei schwierigen Fällen, koordinieren Leistungen, übernehmen die wirtschaftliche Planung, beraten, dokumentieren und schaffen so den nötigen Rahmen, in dem Nachbarschaftshilfen Versorgung in gebotener Qualität und Umfang stellen können. Dass Hilfsbedürftige und Helfende Teil des gleichen sozialen Netzwerkes sind, gibt die Möglichkeit, Bedarfe frühzeitig zu erkennen und damit Lösungen anzustoßen, die zum Einzelfall passen und Verschlimmerungen durch (zu) spät greifende Leistungen vermeiden.

Für vor- bzw. nicht-pflegerische Leistungen im Alter gibt es bereits erste Strukturen. § 71 SGB XII beschreibt eine Reihe von Angeboten, die selbstbestimmte Teilhabe im Alter ermöglichen sollen. Dazu zählen Beratungsleistungen ebenso wie die Schaffung von Engagementsmöglichkeiten, Vermittlung von barrierearmen Wohnraum und Schaffung vernetzter Angebotsstrukturen. Theoretisch wurde damit ein solides Fundament für professionelle Unterstützung im gewohnten Wohnumfeld geschaffen, das durch ehrenamtlich Tätige erweitert werden kann. Praktisch zeigt sich jedoch, dass es aufgrund fehlender Rechtsansprüche auf dieser Leistungen große Unterschiede zwischen den Kommunen gibt. Ob und wie ältere Menschen Unterstützungen erhalten können, bleibt am Ende eine Frage des Wohnortes. Wer in einer reichen Stadt wohnt, darf auf mehr Hilfen hoffen, als sein Altersgenosse im armen Nachbarsort – auch wenn gerade dort diese Hilfen die stärkste Wirkung entfalten würden.

En­ga­ge­ment er­wünscht – So­li­da­ri­tät er­sc­höpft?

Ob nun bei nicht-pflegerischen Aufgaben oder pflegerischer Unterstützung: alle Ansätze zielen darauf ab, professionelle Dienstleister zu entlasten, indem Freiwillige aktiv werden. Der Erfolg solcher Modelle hängt jedoch entscheidend davon ab, ob es gelingt, Menschen für dieses Engagement zu gewinnen – und langfristig zu binden.

Genau hier liegt eine der größten Herausforderungen für Deutschland: Klassische Formen solidarischer Unterstützung finden sich immer seltener. Individualisierung, Anonymität und Zeitdruck prägen die moderne Gesellschaft. Der Rückzug ins Private, die Erosion traditioneller Bindungen und die wachsende ökonomische Belastung wirken dem ehrenamtlichen Engagement entgegen. Zwar gibt es auch in Deutschland zahlreiche Menschen, die helfen wollen, doch fehlt es oft an klaren Strukturen, Anerkennung und Unterstützung.

Damit stellt sich nicht nur die Frage, ob Freiwillige helfen können, sondern warum sie es überhaupt tun sollten. Wie kann man Menschen motivieren, sich in einem System zu engagieren, das ohne sie kaum tragfähig sein wird? Welche Rahmenbedingungen braucht es, um Ehrenamt zu fördern, ohne es auszubeuten? Und wie kann sichergestellt werden, dass freiwillige Hilfe nicht zum Lückenfüller eines überlasteten Sozialstaates wird, sondern als gleichwertige Säule der Versorgung verstanden und wertgeschätzt wird?